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2 Begriffsklärung und Operationalisierung (1/3)

Krisen als Handlungssituationen
Für jedes politische System stellen sich zwei Hauptaufgaben: zum einen versucht es, seinen Erhalt zu sichern, zum anderen muss es kollektiv verbindliche Entscheidungen bereitstellen[1]. Hierbei ist es nicht entscheidend, ob es sich um ein nationales politisches System oder eine internationale Organisation handelt; beide Typen können mit dem Systemmodell untersucht  werden (vgl. [2] für internationale Organisationen und [3]für die Europäische Union).

Eine Krise solch eines politischen Systems ist in unserem Verständnis dabei durch die folgenden drei Aspekte gekennzeichnet:
  1. Krisen haben einen objektiven Kern, der an einen empirischen Befund gebunden ist. Zugleich weisen sie aber auch eine subjektive Komponente auf, die die Wahrnehmung der Krise als solche überhaupt erst konstituiert.
  2. 'Krise' bezeichnet eine Handlungssituation, in der Handlungsalternativen zur Disposition stehen, was aber zugleich auf die Notwendigkeit eines damit verbundenen Akteurs hinweist. Krisen können somit nicht losgelöst von Akteuren und deren subjektiver Deutung analysiert werden.
  3. Den Handlungsalternativen kommt ein potentiell systemverändernder Charakter zu. Dies wird erneut bei Habermas deutlich: Eine Krisentheorie müsse zeigen, dass „der Staatsapparat dabei nicht nur auf Schwierigkeiten, sondern auf langfristig unlösbare Probleme stoßen muss“ [4].
Ein wesentlicher Punkt in der analytischen Auseinandersetzung mit Krisen ist, dass eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen „Krisenereignissen“ und „Krisen“ gezogen werden muss. Eine Krise umfasst deutlich mehr als die sie auslösenden Krisenereignisse. Die Krisenereignisse führen dazu, dass Widersprüche in der Funktionsweise und den formulierten Zielen des politischen Systems auftreten und das System nicht in der Lage ist, diese Widersprüche mit seinen hergebrachten Mitteln zu lösen. Auch die Wahrnehmung spielt eine Rolle bei der Unterscheidung der beiden Begriffe. „‚Krise’ hängt teilweise von den Erkenntnissen der betroffenen Menschen ab. Dieselbe objektive Situation kann in einer Gesellschaft eine Krise sein, in einer anderen jedoch nicht“[5] .
Quelle: Eigene Darstellung.
Ebenso wie im „Normalzustand“ auch müssen wir in Krisensituationen von widerstreitenden Interessenkonstellationen bei der Bewältigung von Krisen ausgehen, nun aber in einer verschärften Form, da Krisen die Möglichkeit einer umfassenderen Systemreform bieten (window of opportunity). So wird beispielsweise eine Regierung kaum über die Entscheidung stürzen, eine Autobahn auszubauen. Wenn es hingegen um den Umgang mit einem Reaktorunfall geht, so rückt diese Möglichkeit deutlich näher. Wie oben dargestellt lässt sich eine Krise nicht losgelöst von Akteuren betrachten (die Krisenereignisse als solche allerdings sehr wohl). Widerstreitende Interessenkoalitionen in Verbindung mit dem Verständnis von Krisen als Handlungssituation verweisen darauf, dass in Krisen eine machtpolitische Auseinandersetzung zwischen Akteuren in verschärfter Form stattfindet. Das ergibt auch Sinn durch die konträre Überlegung: nehmen wir erneut das Beispiel der Kernschmelze in einem Atomkraftwerk. Wenn keine widerstreitenden Interessen vorliegen würden, dann würde das politische System das Krisenereignis mit seinen gewohnten Mitteln bearbeiten und neue Wertallokationen vornehmen. Weder würden Widersprüche zum System aufkommen, noch wäre die Wertallokation in ihrer Durchsetzung gefährdet.
Das Vorliegen von widerstreitenden Interessenkoalitionen führt nun aber dazu, dass mindestens zwei Akteure oder Akteursgruppen auftreten, die unterschiedliche Forderungen an das System stellen und dieses somit unter Stress setzen.
Operationalisierung von Krisen als Handlungssituation: der „Situationswürfel“
Was unterscheidet nun aber eine Situation, in der das politische System routiniert einen Output erzeugt und einer Situation, in der dies nicht mehr möglich ist und wir von einer Krise sprechen können? Um diese Frage zu beantworten, ist ein Blick auf die Operationalisierung von Krisen(ereignissen) notwendig. Charles F. Hermann[6] bietet ein entscheidungstheoretisches Modell an, in dem er die Bedeutung der Akteure und ihrer Wahrnehmung der Krise betont; im Mittelpunkt stehen nicht die objektiven Fakten, sondern, wie die Krise von den Akteuren wahrgenommen wird.
Krisen stellen sich dann als Situationen dar, in der:
  1. wichtige Ziele einer Entscheidungseinheit bedroht werden,
  2. die Reaktionszeit für das Treffen einer Entscheidung begrenzt ist und
  3. deren Eintreten für die Mitglieder der Entscheidungseinheit überraschend erfolgt(Handlungsdruck). 
Aus diesen drei Eigenschaften heraus –Bedrohungspotenzial, Reaktionszeit, Antizipation – lassen sich unterschiedliche Handlungssituationen in einem dreidimensionalen Raum, dem „Situationswürfel“, typologisieren.
Der „Situationswürfel“ zur Einordnung von Handlungssituationen. Eigene Darstellung nach Hermann 1973: 53.
Die acht Eckpunkte (A-H) als idealtypische Handlungssituationen werden von Hermann (1973:53) folgendermaßen beschrieben:

A) Krisensituation: hohes Bedrohungspotential, kurze Entscheidungszeit, Überraschung
B) Innovative Situation: hohes Bedrohungspotential, lange Entscheidungszeit, Überraschung
C) Untätigkeitssituation: niedrige Bedrohungspotential, lange Entscheidungszeit, Überraschung
D) Umstandsbedingte Situation: niedrige Bedrohungspotential, kurze Entscheidungszeit, Überraschung
E)Situation reflexartiger Entscheidung: hohes Bedrohungspotential, kurze Entscheidungszeit, Antizipation
F) Situation intensiver Beratung: hohes Bedrohungspotential, lange Entscheidungszeit, Antizipation
G) Routinierte Situation: niedriges Bedrohungspotential, lange Entscheidungszeit, Antizipation
H) Administrative Situation: niedriges Bedrohungspotential, kurze Entscheidungszeit, Antizipation.
Mithilfe dieses Situationswürfels lassen sich Situationen einordnen. Je näher sie am Punkt A) sind, desto eher stellen sie in ihren Auswirkungen eine Krise dar. Umgekehrt gilt, je näher sie am Punkt G) sind, desto eher kann das System die Situation mit bewährten Methoden meistern.
Quellen

[1] Easton, David 1965: A System of Analysis of Political Life, New York, London, Sidney: Wiley.
[2] Rittberger, Volker/Zangl, Bernhard/Kruck, Andreas 2013: Internationale Organisationen, 4. Auflage, Wiesbaden: Springer.
[3] Schmidt, Siegmar/Schünemann, Wolf J. 2013: Europäische Union. Eine Einführung, 2. Auflage, Baden-Baden: Nomos (UTB).
[4] Habermas, Jürgen 1976: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
[5] Gurr, Ted R. 1973: „Vergleichende Analyse von Krisen und Revolutionen“; in: Jänicke, Martin (Hg.): Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, Opladen: Westdeut-scher Verlag (UTB), 65.
[6] Hermann, Charles F. 1973: „Indikatoren internationaler politischer Krisen“; in: Jänicke, Martin (Hg.): Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, Opladen: Westdeut-scher Verlag (UTB), 44-63.


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