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Auf der folgenden Seite finden Sie eine Kurzerfassung der Situationen der politischen Ebene in Ungarn und Polen, die Handlungsweise der EU und dessen Institutionen, eine Diskussion des Presseclubs im Bezug auf Polens Veranstaltungen und einen Input von Dominik Brenner von der CEU betreffend der Lage der ungarischen Zivilgesellschaft , sowie eine Konflikt- und Gefährdungsanalyse.
Hintergründe der Verfassungskrise in Polen
Verweis auf Polens Verfahrensweise im Bezug auf die Pressezensur, Dezember 2016 [https://pixabay.com/en/poland-hand-flag-patriotic-643760/]
Als Ausgangspunkt der Krise wird häufig das Jahr 2015 mit gleich zwei bedeutenden politischen Wahlen gesehen. Zunächst gewann der Kandidat der nationalkonservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS), Andrzej Duda, die Präsidentschaftswahl im Mai 2015. Auch die im Oktober durchgeführt Wahl zur ersten Kammer, dem Sejm, gewann die PiS. Sie löste damit die zuvor acht Jahre regierende liberal-konservative Koalition ab und verfügt seitdem sogar über die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament. Eine derart starke Regierung, die sowohl den Präsidenten stellt und gleichzeitig über die absolute Mehrheit im Parlament verfügt, gab es seit der Gründung der dritten polnischen Republik 1989 noch nie.

Der eigentliche Anstoß zur sogenannten Verfassungskrise in Polen fällt nun aber zwischen die Zeit, in der neue Präsident Duda vereidigt und das neue, von der PiS dominierte Parlament eingesetzt wurde. Im Juni 2015 verabschiedet das Parlament um die Koalition PO und PSL ein neues Verfassungsgerichtsgesetz. Dieses Gesetz befähigte den damaligen Sejm, bereits zu diesem Zeitpunkt Nachfolger für alle Verfassungsrichter zu wählen, deren Amtszeit in der zweiten Jahreshälfte enden würde, auch wenn jene Amtszeiten eigentlich erst nach der Arbeitsaufnahme des neuen Parlaments ausliefen. Wie zu erwarten legte die PiS gegen dieses Gesetz im Oktober 2015 eine Verfassungsbeschwerde ein. Das Verfassungsgericht setzte die Verhandlung für den 3. Dezember 2015 an. Zu diesem Zeitpunkt war die Situation in Polen bereits angespannt, von einer politischen Krise sprach jedoch kaum jemand. Es war lediglich ein Gesetz verabschiedet worden, das Zweifel in Bezug auf seine Verfassungsmäßigkeit hervorrief. Gegen dieses Gesetz wurde regulär geklagt und es wäre unter Umständen nach einem Urteil des Verfassungsgerichts gestrichen worden.

Nachdem nun im Oktober das neue Parlament seine Arbeit aufnahm, goss es neues Öl ins Feuer der ohnehin angespannten politischen Lage.
Obwohl die Amtszeit von drei der fünf Verfassungsrichter abgelaufen war, war der neu ernannte Präsident nicht bereit ihre Nachfolger zu vereidigen. Ein Akt, der bis dato lediglich als reine Formalie aufgefasst wurde. Währenddessen brachte die PiS innerhalb kürzester Zeit, bereits am 19. November 2015, eine Änderung des Verfassungsgerichtsgesetzes durch das Parlament. Kurz darauf  wurde die Wahl aller fünf Verfassungsrichter durch den vorherigen Sejm für ungültig erklärt, mit der Bitte an den Präsidenten, diese allesamt nicht zu vereidigen. Der neue Sejm wählte direkt im Vorfeld  der Sitzung des Verfassungsgerichtes fünf neue Richter, die der Präsident unmittelbar vereidigte.

Im weiteren Verlauf begann nun die Parlamentsmehrheit mit der Arbeit an einer weiteren Gesetzesnovelle, die einige Punkte enthielt, die die Arbeit des Verfassungsgerichts verlangsamen, beziehungsweise in ihrer Effizienz stark einschränken würden.
In dem folgenden Video wird über die letzte Justizreform der nationalkonservativen Regierungspartei PiS in Polen und dessen Herausforderungen geredet. Die Moderatorin Sonia Seymour Mikich diskutiert mit: - Sabine Adler (Deutschlandradio) - Ruth Berschens (Handelsblatt) - Aleksandra Rybinska (polnische Wochenzeitung wSieci) - Thomas Schmid (Publizist). Polen wird durch einen Vertragsverletzungsverfahren und dem Entzug der Stimmrechte von der EU erpresst.
ARD Presseclub (30.07.2017): Polen und die EU: Ja zum Geld, nein zum Rechtsstaat?

Hintergründe der Verfassungskrise in Ungarn
Fidesz
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán vertreten durch das ungarische Wort für "stehlen". [https://pixabay.com/en/politics-politician-political-1934824/]
Seit dem 1. Januar 2012 hat Ungarn ein neues Grundgesetz. Allerdings erfolgte Der Verfassungsgebungsprozess beinahe vollkommen unter Ausschluss von Rechtsexperten und der politischen Opposition. Durch der Parlamentswahl im April 2010 erreicht die im Ausland nicht selten als rechtspopulistisch und nationalistisch titulierte Partei Fidesz um ihren Vorsitzenden Viktor Orbán zwei Drittel der Sitze im Parlament und verfügt somit über die rechtliche Grundlage, um am 18. April 2011 das neue ungarische Grundgesetz im Parlament durchzusetzen. Dieses ersetzt die 1989/90 erneuerte, formal aber nicht außer Kraft gesetzte, sozialistische Verfassung. Allerdings anders, als es bei einer Ausarbeitung eines Gesetzestextes, welches Leben der Ungarn in derart gravierendem Maße beeinflussen würde, erwartet werden würde, erfolgte die Formulierung der neuen Verfassung ohne konkrete politische Debatte. Eine Diskussion fand de facto ausschließlich zwischen den Mitgliedern der Regierungsparteien Fidesz und ihrem christdemokratischen Koalitionspartner KDNP statt. Nicht zuletzt die Venedig Kommission des Europarates brachte ihre Bedenken zum Ausdruck über eine Verfassungseinführung ohne Beteiligung der Opposition, Rechtsexperten und zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Die Ursprünge der Krise folgern letztendlich allerdings aus den Formulierungen des neuen Grundgesetzes. Ungar wird nach Artikel B dieser Verfassung als demokratischer Rechtsstaat definiert, der es sich nach Artikel E zum Ziel setzt die europäische Einheit voranzutreiben, allerdings erfüllt diese Verfassung in vielerlei Hinsicht nicht die grundlegenden Standards des demokratischen Konstitutionalismus und den maßgeblichen Anforderungen, die nach Artikel 2 des EU-Vertrags festgelegt sind. Das formulierte Grundgesetz weist nicht selten inhaltliche Mängel auf, die nach Experten dazu führen könnten, dass grundlegenden europäische Wertegrundsätze umgangen werden können und die Ungarn bei Anwendung ihrer eigenen Verfassungsgrundsätze in Konflikte in Bezug auf ihre internationalen Verpflichtungen bringen können. So richtet sich beispielsweise die Verfassung ausdrücklich auch an Ungarn, die außerhalb der Staatsgrenzen leben. Die ungarische Nation wird kulturell und nicht politisch definiert. Des Weiteren wird die christliche Weltanschauung im Vergleich zu anderen modernen Verfassungen weit in den Fokus gerückt und auch das Verfassungsgericht erfährt Einschränkungen, um nur einen Teil der gerade aus europäischer Sicht heftig umstrittener Formulierungen zu nennen.
Interview zur Lage der Central European University
Zunächst finden Sie ein Interview von Dominik Brenner, der als Politikwissenschaftler an der Central European University (CEU) in Budapest arbeitet.
Herr Brenner hat einen Bachelor-Abschluss in Politikwissenschaft von der Universität Freiburg und einem Master-Abschluss in Politikwissenschaft von der CEU. Während seines Studiums absolvierte er ein Praktikum im Europäischen Parlament absolviert, in dem er sich vor allem mit Fragen des Binnenmarktes und des Verbraucherschutzes (IMCO) des Europäischen Parlaments sowie des Wirtschafts- und Währungsausschusses (ECON) beschäftigte. Außerdem arbeitet er als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Governance im Mehrebenensystem der Universität Freiburg.
Seit 2016 ist Dominik Brenner Doktorand an der CEU. Zu seinen Forschungsinteressen gehören u.a. die politische Ökonomie der Finanzen, die Politische Ökonomie der EU und Formen des Kapitalismus.
Dominik Brenners Internetauftritt finden Sie unter folgendem Link: https://pds.ceu.edu/people/dominik-brenner.
Wie begründen die Akteure ihre Handlungen?
Sowohl in Polen als auch in Ungarn sprechen die Mehrheitsverhältnisse für die Regierung. Die EU wird oft zur nicht gewählten Institution und das Volk ist als eine einheitliche Gruppe in welche die Kritiker keine Mitglieder sind, betrachtet. Das Demokratieverständnis ist in beiden Ländern eng.

In Bezug auf der EU ist das Demokratieverständnis weit verbreitet, die Eu-Verträge sind als Grundlage für die Handlungen genommen, außerdem wird die wirtschaftliche Hilfe nur unter Bedingungen erhalten.
Die Vorgehensweise der EU und die Institutionen der Konfliktbearbeitung
Grafik zum Gesetzgebungsverfahren der EU. [Quelle: EU-Kommission; http://europa.eu/rapid/press-release_IP-14-237_en.htm]
Um die Einhaltung der in Artikel 2 EUV festgelegten Grundwerte der EU zu sichern, hat die EU mehrere Möglichkeiten: 
  • Das Vertragverletzungsverfahren bei Verstößen gegen das EU-Recht[1] 
Die europäische Kommission überwacht die Einhaltung der Verträge und steht dementsprechend stets mit den Mitgliedsstaaten im Dialog. Halten sich Mitgliedsstaaten nicht an die verbindlichen Verträgen, wird zunächst eine Stellungnahme abgegeben, die die betroffenen Staaten dazu auffordert EU-konforme Rechtsverhältnisse herzustellen. Geschieht die Umsetzung des EU-Rechts nicht, prüft der europäische Gerichtshof den Fall und verhängt ggf. Sanktionen gegen den Mitgliedsstaat[2]. Das Vertragsverletzungsverfahren wird sowohl für Polen, als auch für Ungarn genutzt[3].
  • Die EU-Rahmenvorschriften zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit[4]
Während des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens tritt die Kommission mit dem betroffenen Mitgliedsstaat in den Dialog und bewertetdie Lage mittels einer "Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit". Behebt der Mitgliedsstaat das Problem nicht, richtet die Kommission eine "Rechtsstaatlichkeitsempfehlung" aus und setzt eine Frist zur Umsetzung. Wird die Frist nicht eingehalten, kann die Kommission das Verfahren nach Artikel 7 EUV einleiten (Europäische Kommission 2014). Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren wurde 2016 erstmals gegen Polen eingeleitet (Europäische Kommission 2016).
  • Das Verfahren nach Artikel 7 EUV bei "schwerwiegender und anhaltender Verletzung" der Grundwerte[5] 
Bevor Sanktionen mittels Artikel 7 EUV verhängt werden tritt der betroffene Mitgliedsstaat mit dem Rat in den Dialog und erhält eine Empfehlung von diesem[6]. Artikel 7 EUV wird als 'nuclear option' bewusst nicht genutzt[7].
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Konfliktanalyse
Wie und warum man eine Konfliktanalyse durchführt erklärt Ingo Henneberg für das Ringseminar Konfliktanalyse in diesem Videovortrag. Zudem finden Sie hier ein Lernmodul zur Konfliktanalyse.
Konfliktparteien
 
Populistische Regierungsparteien in Polen (PIS) und in Ungarn (Fidesz) als Gegner einer vom europäischen Wertekonsens geformten Verfassung
vs. Oppositionelle, Intellektuelle in Polen und Ungarn, sowie die EU als Befürworter der „alten“ Verfassungen, die zu Rechtsstaatlichkeit verpflichten.
 

Konfliktgegenstand
 
Die Regierungsparteien behaupten, sie seien die einzige rechtmäßige Vertretung des Volkes (des Souveräns) und seiner Interessen. Für eine Rechtsänderung genüge einzig allein der Wille der Partei, die Verfassung und die von ihr festgeschriebenen Regeln und Institutionen des Rechtsstaates (wie z.B. das Verfassungsgericht) können übergangen bzw. geändert werden, denn es gilt: Der Souverän steht über dem Recht[8]. Die Gewaltenteilung ist in diesem Verständnis lediglich ein Hindernis zur schnellen und effektiven politischen Umsetzung des Volkswillens. Das Volk/Die Nation wird als eine in Lebensstil, Ansichten und Weltanschauungen einheitliche Masse verstanden. Wer davon abweicht, gehöre dieser Nation nicht an.

Die auf einem Verständnis eines Staates als Rechtsstaat aufbauende Wertegemeinschaft in der EU droht dadurch in Polen und Ungarn zwei sicher geglaubte Mitglieder zu verlieren. Die EU, als auch die Verteidiger des europäischen Demokratieverständnisses in den beiden Ländern bestehen auf eine rechtsstaatliche Verfassung, die Institutionen vorschreibt, welche durch gegenseitige Kontrolle und Beschränkung die Macht untereinander aufteilen.
 

Konfliktaustragungsform
 
Der Konflikt wird von der Regierung vordergründig auf der politischen Ebene ausgetragen. Verfassungsreformen werden vollzogen (Polen) oder es werden gar neue Verfassungen geschrieben, ohne dass diese jedoch auf der politischen Bühne zur Debatte stehen (Ungarn). Parallel werden Institutionen, die nicht unter der Kontrolle der Regierung sind in ihrer Arbeit verlangsamt, in ihrer Macht beschränkt oder wenn möglich unter Kontrolle gebracht (bspw. die Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen). Hierbei werden allgemeine, bis dato durch Beachtung „demokratischer Spielregeln“ bewusst nicht ausgenutzte Lücken im System der Gewaltenteilung ausgenutzt. So galt es in Polen stets als selbstverständlich, dass der Präsident von seinem Veto-Recht gegen die vom Parlament ernannten Verfassungsrichter keinen Gebrauch machte, auch wenn er dazu immer in der Lage gewesen war[9].

Werden derlei Manöver entgegen der gängigen Praxis öffentlich begründet, so werden Argumentationen aufgestellt, die einer eindeutigen Freund-Feind-Logik folgen[10]. Allen nationalen Kritikern wird (rein rethorisch) die Zugehörigkeit zur Nation abgesprochen, alle internationale Gegner der eigenen Standpunkte werden zu “Feinden der Nation“. Das derzeitige, von europäischen Werten geprägte politische System wird als dysfunktional und antidemokratisch und das Vorgehen gegen dieses als längst hinfälliger revolutionärer Akt dargestellt, der dem Volk Gerechtigkeit bringt.

Auf Seiten der Befürworter des Rechtsstaats finden Demonstrationen für Verfassung und Gewaltenteilung statt. Auf politischer Ebene wird national versucht durch Klagen beim Verfassungsgericht gegen Verfassungswidrige Entscheidungen der Regierung vorzugehen (insofern das Verfassungsgericht noch unabhängig und mit genügend Machtmitteln ausgestattet ist[11]. Ähnlich geht auch die EU vor, die 2016 ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen einleitete.
Gefährdungsanalyse
Bedrohte politische Teilsysteme
  •  Bereitstellung autoritativer Wertzuweisungen/Normen
Je nach der Analyseebene (national oder europäisch) und der Breite des analysierten Gesellschaftsteils verändern sich die Bedrohungen zur Bereitstellung autoritativer Wertzuweisungen und Normen. Insofern die Rechtsparteien von ihren Parteimitgliedern und Wahlbasis unterstützt werden, stellen sie legitimiert die gewünschten Werte auf der nationalen Ebene bereit[12]. Zum Beispiel wird in Ungarn die Verfassung von 1989 von mehreren Leuten, sowohl von der linken Seite als auch von der rechten Seite, nicht als die ihre betrachtet[13]. Trotzdem ist diese Analyse abhängig von einem spezifischen rechtsorientierten Gesellschaftsteil. Es gibt zwar andere Teile der Gesellschaft, die außerhalb der eingeschränkten Beschreibung der „Nation“ liegen, deren gewünschte Werte nicht bereitgestellt werden, u.a. Juden, Zigeunern und die politische Opposition[14]. Zudem schränkt die ungarischen Verfassungsänderungen die künftige Macht und damit die Wertzuweisungsfähigkeit anderer Regierungen und parlamentarischen Mehrheiten[15]. Deshalb kann es festgestellt werden, dass die Bereitstellung autoritativer Wertzuweisungen und Normen auf der nationalen Ebene und im Kontext der ganzen Gesellschaft wesentlich bedroht wird.
 
Zudem besteht auch eine wesentliche Bedrohung auf der europäischen Ebene. Als Staaten in die EU beitraten, basierte sich deren Assoziierung auf die Grundidee, dass die Bevölkerungen der Staaten demokratische Werte und Regierungssysteme festhalten und versichern wollten. Anders formuliert: Beteiligung in der EU spiegelt den Wille für demokratische Herrschaft wider (dieser Begriff heißt „EU as political insurance“[16]). Des Weiteren beeinflussen diese illiberale in bestimmten Staaten geschehene Entwicklungen die ganze EU und alle seiner Bürger wegen der grenzübergreifenden Kraft der europäischen Gesetze, (dieser Begriff heißt „all-affected principle“[17]). Wenn Mitglieder der EU demokratische Werte hinterlassen, lassen sie nicht nur die Ideen der Bürokratie in Brüssel hinter, sondern auch die Absicht der eigenen Bevölkerung[18] und der ganzen europäischen Bevölkerung. In diesem Sinn der allgemeinen Absicht verhindert ein demokratischer Rücktritt die Fähigkeit der EU, ihre autoritative Wertzuweisungsfähigkeit zu gewährleisten. Im Anschluss daran werden die EU-Verträge in den Werten und Normen von Gerechtigkeit und Demokratie gegründet. Zudem gibt es viele europäische Bürger, die demokratischen Wertschutz von der EU fordern[19]. Wenn die EU diese Forderungen nicht anhören würde, d.h. wenn die EU die Herausforderung der zunehmenden illiberalen Tendenzen in Polen und Ungarn nicht bewältigen würde, würde die Wertzuweisungsfähigkeit der EU extrem problemhaft werden[20].
 
Angesichts der nationalen und europäischen Herausforderung kann bestätigt werden, dass eine wesentliche Bedrohung der Bereitstellung autoritativer Wertzuweisung und Normen existiert, solange Gerechtigkeit in Ungarn und Polen weiter bedroht wird und die EU keine genügende Bewältigung erzeugt.
  • Erhalt des Systems
Auf der nationalen Ebene sind politische Entwicklungen nicht so weit vorangeschritten, dass man Ungarn oder Polen als Diktaturen bezeichnen könnte. Beispielsweise gibt es in Ungarn noch viel Informationsfreiheit[21]. Deshalb kann bestätigt werden, dass der Erhalt des nationalen Systems derzeit nicht bedroht wird. Jedoch erlebt die politischen Systeme in diesen Staaten viel Druck aufgrund der Bedrohungen der Systemziele (s. u.), die zu einer weiteren Gefahr für den Erhalt des Systems führen könnten.
 
Die Bedrohung ist auf der europäischen Ebene stärker. Da es keine Methode gibt, einen EU Mitgliedsstaat aus der Union auszuschließen, muss die derzeit existierende EU mit der wahrscheinlichen Tatsache rechnen, dass illiberale Regierungen ein ständiger Teil des europäischen Systems werden können. Wenn Artikel 7 nicht genutzt wird[22], um jene illiberale Regierungen zu isolieren, wird die EU teilweise von nationalen Regierungen ohne europäischer Werteorientierung mitgeführt. Damit wäre es möglich, dass riesige Veränderungen in der Idee Europas verkörpert werden würden. Paradoxerweise könnte der Ausschluss von Mitgliedern allerdings ebenfalls ein Ende der EU bedeuten. Die EU muss deshalb entweder ihre pluralistische Werte beschädigen, um die illiberalen Staaten zu sanktionieren, oder sie muss warten, bis die illiberalen Staaten die Werte der EU selbst zerstören[23]. Diese Entscheidung ist eine existentielle Bedrohung des Erhalts des europäischen Systems.
 
  • Bedrohung von Institutionen
Die Bedrohung von Institutionen ist extrem greifbar und meist auf der nationalen Ebene überwiegend. In Polen führt die kontroverse Vereidigung der Verfassungsrichter zu einer Verfassungskrise, da sie die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts in Frage stellt[24]. Der Präsident versucht das Recht mit dem Willen des Volkes gleichzusetzen, um mehr Legititmität für die getroffenen Entscheidungen zu erlangen[25]. Außerdem übernimmt die Regierung die Kontrolle über den öffentlichen Rundfunk[26]. Nichtsdestotrotz gibt sind noch wenige Sicherheitsmechanismen vorhanden, obwohl ihre Effektivität niedriger als zuvor ist[27]
 
In Ungarn sind öffentliche Medien aufgrund von Wirtschaftssanktionen und juristischen Angriffe nicht unabhängig von der Regierung (dies führt zu einem „Fidesz people“[28]). Wegen Orbans Absicht, einen starken Probleme lösenden Staat aufzubauen, begann er mit dem Abbau der checks and balances innerhalb des Staates[29]. Die Macht des Verfassungsgerichts, das die größte Gleichgewichtsquelle im Regierungssystem Ungarns ist, wurde von der Regierungspartei Fidesz dominiert, und Ämter wurden von Parteiloyalisten besetzt (dies führt zu einem „Fidesz state“[30]). Die Verfassung von 1989 wurde in den ersten sechs Monaten der Fidesz-Regierung zehn Mal verändert, was das Parlament entmachtete, der Kompetenzbereich des Verfassungsgerichts einengte und die Medienfreiheit einschränkte[31].
Sowohl in Polen[32] als auch in Ungarn[33] ist ein zentrales Thema das von der Regierungspartei kommende neue Verständnis der Gewaltenteilung, welches andere Institutionen entmachtet und die Regierung über die Macht des Gerichts stellt[34]. In beiden Staaten, wo die alten Verfassungen als Teile des defekten postkommunistischen Zeitalters und Regierungssystems betrachtet werden[35], haben die Regierungen durch den Abbau der checks and balances, sowie das Schreiben einer neuen Verfassung versucht, über das ganze System zu verfügen (dieser Begriff heißt „constitutional capture“[36]). Deshalb kann festgestellt werden, dass die Bedrohung von nationalen Institutionen sehr hoch ist.
 
Auf der europäischen Ebene kann die Bedrohung der Institutionen wegen dieser nationalen Entwicklungen nur künftig betrachtet werden, insofern als dass die zunehmend illiberalen Regierungen mächtige Positionen in dem Entscheidungssystem der EU ergreifen könnten. Von einer Bedrohung der europäischen Institutionen kann nur eine Rede sein, wenn diese Entwicklungen nicht bewältigt werden und die illiberalen Staaten die Institutionen der EU wesentlich beeinflussen können.
 
 
Bedrohte Systemziele
  • Gewaltfreier Konfliktaustrag
 
Im Allgemeinen wird dieses Ziel nicht bedroht, obwohl aus Hass begangene Verbrechen gestiegen sind[37]. Zwischen EU-Staaten geführtee Kriege oder Bürgerkriege sind wegen der engen Verbindungen, Interdependenz und Institutionalisierung extrem unwahrscheinlich.
 
  • Gesamtgesellschaftlicher Wohlstand
Gesamtgesellschaftlicher Wohlstand ist im Wesentlichen nur in Ungarn bedroht, während in Polen und der EU die Bedrohung nicht besonders hoch ist (wenn, nur wegen eines Zwiespalts im Wertkonsens). In Ungarn gab es seit 2010 politische und psychologische Angriffen auf mehrere Institutionen. Diese enthalten: Sondersteuern für bestimmte Wirtschaftszweige, Banken und multinationale Unternehmen, Privateigentum (das konfisziert und an Parteiloyalisten übergeben wird), ausländische Investoren, und internationale Wirtschaftsorganisationen sowie Finanzmärkte; zudem werden private Unternehmen in staatliche Abhängigkeit gebracht. Diese Rezentralisierung und Rückverstaatlichung hat den Parteiloyalisten geholfen, während die ärmsten der Gesellschaft darunter gelitten haben[38]. Die Arbeitslosigkeit in Polen und Ungarn ist stetig gesunken, während das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stetig stieg (Eurostat). Ungarn ist das einzige Beispiel, bei dem der gesamtgesellschaftliche Wohlstand gefährdet ist, im Allgemeinen besteht für Polen und die EU keine Gefahr. 
  
  • Achtung der Menschen- und BürgerInnenrechte/Rechtsstaatlichkeit 
 
In Anbetracht der Beiträge zu den Bedrohungen von Wertzuweisung, Erhalt des Systems, Institutionen und Wohlstand (s. o.) sowie Entscheidungsfindung und Minderheitenschutz (s. u.) ist klar, dass die Achtung der Menschen- und BürgerInnenrechte sowie Rechtsstaatlichkeit auf der nationalen Ebene bedroht wird.
 
Trotzdem ist die Bedrohung auf der europäischen Ebene milder, was Einfluss auf der nationalen Ebene hat. Jeder Bürger eines europäischen Staates ist auch ein europäischer Bürger, der europäische Rechte genießt; deshalb können die europäischen Bürger durch mehrere Prozesse ihre Rechte schützen, wenn sie auf der nationalen Ebene bedroht werden. Die Rechte bleiben bestehen, sogar wenn illiberale Regierungen in der EU an Macht gewinnen[39]. Deshalb kann bestätigt werden, dass die Achtung der Menschen- und BürgerInnenrechte sowohl in der EU als auch in den Staaten nicht wesentlich bedroht ist, weil die EU noch funktionierende Systeme hat, die diese Rechte schützen können. Dennoch wird deutlich, dass europäische Rechtsstaatlichkeit auf der nationalen Ebene in Gefahr ist.
 
  • Demokratische Entscheidungsfindung und Minderheitenschutz
 
In Polen und Ungarn gibt es im Bezug auf Verfassungsgerechtigkeit und Minderheitenpolitik klare Drohungen – z.B. die Ungarische Auffassungen der „Nation“ und die Feindbildaufbau gegenüber der Opposition. Weil sowohl die PiS als auch Fidesz ihr politisches Mandat von der „Nation“ bekommen, werden viele Bürger des Staates, die nicht zur Vorstellung der Nation gehören, ausgeschlossen. In Polen hält die PiS die Nation für den Souverän, statt der Gesamtheit bzw. demos[40]. Deshalb kann die PiS den Einbezug des gesamten Volkes als ein politisches Subjekt ignorieren, und unter ihrer Vorstellung von Nation ihre Politik durchsetzen [41]. Während der Patriotismus steigt, verringert sich die Achtung vor den Rechtsnormen[42]4. In Ungarn hat die Regierungspartei jene ungarischen Bürger als Feind klassiert, die gegen die Aufhebung der Verfassung von 1989 waren und die republikanische Traditionen, andere Religionen sowie Oppositionsparteien unterstützten[43]. Manche direkten rechtlichen Angriffe auf Bürger wurden in die Verfassung aufgenommen, z.B. die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit und homosexueller Ehepaaren [44]. Die EU hat sowohl das Recht als auch die Mittel, in dieser Situation wegen Menschenrechtsverletzungen einzugreifen, sie aber noch nicht genutzt[45]. Solange nichts verändert wird, blleibt die Bedrohung auf der nationalen Ebene sowie auf der europäischen Ebene kontinuierlich hoch.
Quellen

[1] Europäische Kommission o.J.
[2] Europäische Kommission o.J.
[3] Europäische Kommission 2017
[4] Europäische Kommission 2014
[5] Europäische Kommission 2014
[6] Europäische Union 2012:19f
[7] Müller, Jan-Werner: Should the EU Protect Democracy and the Rule of Law inside Member States?, in: European Law Journal, 2015, S. 147
[8] Marta Bucholc, Maciej Komornik: Die PiS und das Recht, 2016, S. 85
[9] Bucholc/Komornic 2016: 85
[10] Gábor Attila Tóth: Macht statt Recht, Deformation des Verfassungssystems in Ungarn, 2013, S. 21
[11] Bucholc/Komornic 2016:82
[12] Koenen, Krisztina: Orbánismus in Ungarn. Ursprünge und Elemente der „illiberalen Demokratie“, in: Osteuropa, 2015, S. 36
[13] vgl. Tóth, 2013:22
[14] vgl. Bucholc u. Komornik 2016:85-6, Koenen 2015:43 und Kornitzer, Laszlo: "Ihr Programm heißt Destruktivität". Über Ungarns Rechte und die politische Kultur, in: Osteuropa, 2010, 60, 6.  S. 28
[15] vgl. Tóth 2013:25
[16] vgl. Müller 2015:146-7
[17] vgl. Müller 2015:145
[18] vgl. Müller 2015:160
[19] vgl. Müller 2015:157
[20] vgl. Müller 2015:160
[21] vgl. Koenen 2015:36
[22] vgl. Müller 2015:147
[23] vgl. Müller 2015:160
[24] vgl. Bucholc u. Komornik 2016:81
[25] vgl. Bucholc u. Komornik, 2016:82
[26] Marcinkiewicz, Kamil: Der politische Rechtsruck in Polen: Analyse von Ursachen und außenpolitischen Konsequenzen, in: Zeitschrift für Außen-und Sicherheitspolitik, 2016, S. 474
[27] vgl. Bucholc u. Komornik 2016:93
[28] vgl. Müller 2015:142; vgl. auch Koenen 2015:35
[29] vgl. Koenen 2015:42
[30] vgl. Müller 2015:142 und 147; vgl. auch Tóth 2013:25
[31] vgl. Tóth 2013:23
[32] vgl. Bucholc u. Komornik 2016:86
[33] vgl. Tóth 2013:22
[34] vgl. Bucholc u. Komornik 2016:82
[35] vgl. Bucholc u. Komornik 2016:88 und Tóth 2013:22-3
[36] vgl. Müller 2015:142
[37] vgl. Kornitzer 2010:22
[38] vgl. Koenen, 2015:34
[39] vgl. Müller 2015:148
[40] vgl. Bucholc u. Komornik 2016:85
[41] vgl. Bucholc u. Komornik 2016:87
[42] Bucholc u. Komornik 2016:90
[43] vgl. Tóth 2013:24
[44] vgl. Tóth 2013:25
[45] vgl. Tóth 2013:27


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