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Einordnung des Brexits in das Komplexprogramm nach Senghaas
Übersicht zu den Kriterien der Vergemeinschaftung. Quelle: Eigene Darstellung.
Die Folgen des Brexits lediglich auf die Interdependenzen zwischen der EU und Großbritannien zu untersuchen wäre zu kurz gegriffen. Deswegen wurde das Komplexprogramm nach Dieter Senghaas darüber hinaus um die Komponente "EU intern" erweitert.[1] Häufig spielt die Außenpolitik auch eine Rolle für die inneren Angelegenheiten - und so lässt sich auch dieser Fall nur mit seinen mindestens zweifachen Implikationen betrachten.

Während die Interdependenzen zwischen dem europäischen Festland und Grobritannien historisch sehr intensiv ausgeprägt sind und wegen der stabilen wirtschaftlichen, kulturellen, zivilgesellschaftlichen aber auch militärischen Verbindungen auf diesem Feld nur geringes Konfliktpotenzial zu erwarten ist, könnte die entstehende EU-Außengrenze in Irland zum Problem werden. Die Verhandlungen werden zeigen, wie sich die Parteien dort einigen können - man könnte die bewusste Ablehnung einer Schengengrenze auf irischen Boden auch als Chance zum weiteren Dialog begreifen. Eu intern bietet der Brexit beides: Chance und Gefahr zugleich. Trittbrettfahrer könnten ebenfalls auf die Idee kommen, die EU zu verlassen, auch schon die Drohung alleine zu Verbesserung von Konditionen nutzen. Auf der anderen Seite kann der Austritt GBs aber auch als Chance zu intensivierten Zusammenarbeit begriffen werden, in der die als lästige Bremser empfundenen Briten nicht länger das Tempo der forcierten europäischen Integration verlangsamen.

Zur Homologie lässt sich nicht viel erwähnen: Der Wertekonsens - das haben sowohl die EU als auch GB bekräftigt - bleibt zwischen diesen beiden Parteien bestehen; es ist gar von Freundschaft die Rede. EU intern allerdings könnte der Wegfalls GBs bedeuten, dass die gemeinsame Haltung gegenüber Russland bröckeln könnte. Mit dem Austritts GBs verliert die EU einen berechenbaren Russlandskeptiker, was die Gewichtung innerhalb der EU eine neue Richtung geben könnte.

Auch nach dem Ausscheiden GBs aus der EU werden weiterhin gemeinsame Insititutionen bestehen, in deren Kontext man nach wie vor zusammenarbeiten wird. Der Bruch - auch wirtschaftlich - wird spürbar, aber nicht allzu hart sein. Bei den G7/G20 werden weiterhin viele Kontinuitäten bestehen, aber auch die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird wohl fortgeführt. Kritisch hingegen ist das Verlassen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu bewerten. Eu intern ist wieder eine doppelte Folge möglich: Schwächung der Insitutionen, aber auch forcierte Reformierung dieser.

Die Fragen der Symmetrie werden im Zuge des Brexits insbesondere bedeutsam. In den größeren internationalen Insitutionen (G20, NATO, ...) wird die Rolle GBs einerseits deutlicher, weil Großbritannien seine Position singulär, unabhängig von den anderen europäischen Staaten formulieren kann. Auf der anderen Seite wird die Position als einzelnes Land auch deutlich schwächer gegenüber dem großen Verbund der europäischen Staaten. Dadurch treten Machtasymmetrien auf, die wohl zum Nachteil GBs gereichen. Auch die nun uneinheitliche Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit - sowie die differierende Rechtsprechung könnte Konflikte und Probleme auslösen. Für die internen Angelegenheiten der EU bedeutet der Brexit, dass die Machtbalance zwischen einer Nord-EU und einer Süd-EU möglicherweise ins Wanken gerät. Darüber hinaus kann nun die oft beschworene und auch gefürchtete "German dominance" nicht länger vom häufig kritischen GB eingehegt werden. Das könnte zu internen Spannungen führen.

Schließlich: die Entropie. Während sich insbesondere in der jüngeren Generation eine die Nationalstaaten transzendierende europäische Identität ausgebildet hat, gibt es auf beiden Seiten bei den älteren, ungebildeteren Schichten durchaus ausgeprägte EU Aversionen. Hinzu kommt die kritische Darstellugn der EU durch einige konservative und rechtspopulistische Politiker in GB (aber auch vereinzelt bei Labour), die EU-bashing zur nationalen Profilierung betreiben. Tatsächlich bietet sich allerdings für die EU auf interner Ebene durch den Austritt gerade hier die Chance, die gemeinsamen Insitutionen zu reformieren, sie zu erneuern und handlungsfähig zu gestalten.
Einordnung in den Situationswürfel
Die Auseinandersetzungen zwischen EU und Großbritannien sind am ehesten in die Ecke G einzuordnen.[2] Das Bedrohungspotenzial ist im Vergleich mit anderen Krisen eher gering, der Konflikt verläuft unmilitärisch und ohne unmittelbare Auswirkung auf die Unversertheit der Menschen in GB und der EU. Die Austrittsverhandlungen sind mit zwei Jahren für die Komplexität womöglich knapp bemessen, nichtsdestoweniger lässt sich hier schlechterdings von einer kurzen Entscheidungszeit reden; die beiden Seiten haben ausreichend Zeit um die Angelegenheiten zu klären. Schließlich: Auch wenn die konkrete Abstimmung zum Brexit einigermaßen überraschen kam, das Referendum war lange angekündigt und die EU-kritischen Positionen und Stimmung auf der Insel waren hinreichend bekannt. Man hatte auf beiden Seiten die Chance, sich auf das eingetretene Szenario einzustellen.

Dem Situationswürfel folgend, kann der Brexit zumindest nicht als klassische, militärische Krise im Sinne von Herrmann verstanden werden.
Situationswürfel nach Hermann, Charles (1973): Indikatoren internationaler politischer Krisen. In: Jänicke, Martin (Hg.): Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, Opladen: Westdeutscher Verlag (UTB), S. 44-63.

[1] Senghaas, D. (2004): Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen, Frankfurt: Suhrkamp, S. 145-159.
[2] Situationswürfel basiert auf Hermann, C. (1973), „Indikatoren internationaler politischer Krisen“; in: Jänicke, Martin (Hg.): Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, Opladen: Westdeut-scher Verlag (UTB), S. 53.


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