ILIAS
WB-ILIAS | Weiterbildung und offene Bildungsressourcen

Funktionen

Analyse

Zunächst wird beschrieben wie die AkteurInnen in dem Konflikt ihre Handlungen kommunizieren und begründen und welche Folgen das für das jeweilige nationale System hat. Verglichen werden hierbei Ungarn/Polen und Deutschland/Schweden aufgrund ihrer gegensätzlichen Positionen, sowie die Positionen der Europäischen Union als Ganzes.

Danach wird analysiert, ob es sich um ein Krisenereignis nach Herrmann handelt und in welche der fünf Bereiche des Komplexprogramms von Senghaas die Handlungen bzw. die Inhalte der Kommunikation fallen. - Handelt es sich dabei um Formen der Integration oder der Desintegration?
Positionen der beteiligten Konfliktparteien
EU
Polen/Ungarn
Deutchland/Schweden
Lösungsanatz
  • Integration und Migration in allen EU-Ländern
  • Verpflichtungsdurchsetzung durch Sanktionen
  • Flexible Solidarität: Expertensendung/Ausgleichszahlungen oder Aufnahme von Flüchtlingen
  • Fluchtursachen bekämpfen
  • Schlepper bekämpfen
  • Grenzen stärken
  • Unterstützende Zahlungen von Ländern, die keine Flüchtlinge aufnehmen
  • Abschiebeverfahren erleichtern
  • Mehr Länder als sichere Drittstaaten deklarieren
  • Geflüchtete sollen nach der Seenotrettung in ein sicheres Drittland zurückgeführt werden
  • Verpflichtungsdurchsetzung durch Sanktionen
  • EU-Fond für Ausgleichszahlungen (Einzahlungen nach BIP des Landes und Auszahlung nach Flüchtlingsquote)
  • monetäre Unterstützung von Frontex und der Ursachenbekämpfung
Begründung
  • Grundrecht auf Asyl ist europäischer Grundwert
  • Abhängigkeit von Drittstaaten verringern
  • Vermeidung der Einschränkung der eigenen Autorität und Handlungsfähigkeit
  • Souveränitätsbeschneidung
  • Es wurden bereits viele Flüchtlinge aufgenommen
  • Schutz des eigenen Arbeitsmarktes
  • Kultur und Glaube (Bedrohungsgefühl)
  • Sicherheitsargument
  • Repräsentation des Volkswillens
  • EU als Friedensnobelpreisträgerin/ Wertegemeinschaft
  • Verpflichtung durch Flüchtlingskonvention
  • Überforderung einiger Länder durch die hohe Anzahl an aufgenommen Geflüchteten soll ausgeglichen werden
  • Zunahme des Populismus
Situationswürfel nach Herrmann
Aus den oben aufgeführten Ausführungen kann nun zur Systematisierung ein Situationswürfel abgeleitet werden.
Grundlegend festzuhalten ist, dass die so genannte 'Flüchtlingskrise' als Krise betitelt werden kann. Aus den oben aufgeführten Analysepunkten wird deutlich, dass sie einen systemgefährdenden Charakter aufweist. Zum Anfang der Krise war das politische System der Europäischen Union zwar in der Lage, den eigenen Erhalt grundlegend zu sichern, jedoch scheiterte es daran, kollektiv verbindliche Entscheidungen, beispielsweise hinsichtlich der Verteilung von Geflüchteten, zu treffen. Der in der Öffentlichkeit ausgetragene Streit und das Nutzen der Krise zur Verfolgung (innen-) politischer Ziele führt neben den objektiven Komponenten der Auseinandersetzung dazu, dass auch die europäische Öffentlichkeit eine Krise wahrnimmt. So kann man auch von einer identitätsgefährdenden Krise sprechen, da Kernprinzipien und -werte der Europäischen Union, hauptsächlich die Wahrung der Menschenrechte, als Streitpunkt herangezogen und von den einzelnen Mitgliedern unterschiedlich ausgelegt wurden. Es kann also festhalten werden, dass sowohl eine Funktions-als auch eine Legitimationskrise vorlag, die zudem auch die grundlegende Identität der Europäischen Union gefährdet.Dies zeigt jedoch auch, dass der Terminus der 'Flüchtlingskrise' den Charakter der Krise nicht umfasst, stattdessen vielmehr die eigentlichen Krisenkomponenten vielmehr verstärkt.

Festzustellen ist, dass das Krisenereignis –die Migrationsbewegungen 2015–und damit die folgende Krise einen hohen Grad an Überraschung aufwies. Auch die sich daraus entwickelte Krise trug insoweit ein Überraschungs-Momentum in sich, als dass der Handlungsdruck für die Entscheidungsträger weiterhin hoch war. Auch die Reaktionszeit für das Treffen von Entscheidungen war verglichen mit anderen deliberativen Prozessen sehr kurz. Nationale Einzelentscheidungen verschärften den zeitlichen Druck, gemeinsam abgestimmte Entscheidungen auf europäischer Ebene zu finden und machten diese teilweise unmöglich. Hinsichtlich des Bedrohungspotenzialsergibt sich, dass dieses hoch einzuschätzen war. Zum einen lag sowohl eine Funktions-als auch eine Legitimationskrise vor. Zum anderen waren auch zentrale Systemziele bedroht. Zwar erfolgte noch immer ein gewaltfreier Konfliktaustrag zwischen den Mitgliedstaaten der EU, jedoch sind weitere zentrale Systemziele, vor allem der Schutz von Menschen-und Minderheitsrechten, stark bedroht.

Aus der hohen Bedrohungslage, der kurzen Entscheidungszeit und dem hohen Grad an Überraschung ergibt sich, dass eine Krisensituation nach Herrmann [1] vorlag.
Jedoch kann aufgrund des oben aufgezeichneten Wandels davon gesprochen werden, dass diese Krisensituation derzeit in abgeschwächter Form vorliegt. Aufgrund der getroffenen Entscheidungen, hauptsächlich sind hier nochmals der EU-Türkei Aktionsplan und der Migrationspartnerschaftsrahmen zu nennen, wurde der Handlungsdruck verringert, womit ein geringeres Überraschungs-Momentum vorliegt. Auch das Bedrohungspotential für die Europäische Union und ihre Institutionen scheint gemindert. Die Reaktionszeit ist aufgrund des verringerten Handlungsdrucks zwar in nicht vergleichbarer Kürze erforderlich, liegt jedoch noch weit außerhalb der des üblichen deliberativen Prozesses auf europäischer Union. Somit kann man, um eine systematische Einordnung der momentanen Situation, von einer Annäherung an eine 'umstandsbedingten Situation' sprechen.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass Handlungen der Akteure die Akteursbeziehungen auf der europäischen Ebene verändert haben. Aus der analysierten Funktions-und Legitimationskrise kann eine potentielle Gefährdung des Friedens in Europa abgeleitet werden. Auch der ausgemachte Wandel, welcher zwar zu einer Abschwächung der Funktions-und in Teilen der Legitimationskrise geführt hat, und somit die Krisenelemente, welche zur Systematisierung in den Situationswürfel nach Herrmann (1979) herangezogen wurden, veränderten, konnte die grundlegenden Krisencharakter bisher nicht komplett überwinden. Gerade die anfängliche Bedrohung durch die dargelegte Krise, aber auch die derzeit noch bestehende innereuropäische Debatte, können zu einer Schwächung des Vergemeinschaftungsgrades führen. Was festgehalten werden kann, ist, dass die Krise der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten, welche sich aus dem Krisenereignis der Migrationsbewegungen entwickelte, vor allem bis heute noch einen identitätsgefährden Charakter aufweist und somit weiterhin auch als Krise aufgefasst werden sollte.
Welche Handlungsalternativen wählen die AkteurInnen?
Handlungsalternativen können einen potentiell systemverändernden Charakter aufweisen. Wie bereits oben deutlich wurde, stellt die sognannte 'Flüchtlingskrise', die vielmehr eine Funktions-und Legitimationskrise der Europäischen Union ist, eine potentielle Gefahr des innereuropäischen Friedens und damit der Vergemeinschaftung dar. Gerade die Aufgabe von europäischen Kernprinzipien, wie die Gewährleistung von Menschenrechten, aber auch das Wiedereinführen von Kontrollen an Binnengrenzen, weist auf einen systemverändernden Charakter hin. Zu erkennen ist, dass derzeit vor allem die Rückbesinnung auf nationale Interessen und Handlungen die Handhabung der Migrationsbewegungen bestimmt. So ermöglichte beispielsweise erst am 07. Februar 2017 der Rat der Europäischen Union weitere Ausdehnungen der Grenzkontrollen an europäischen Binnengrenzen [2].

Auf europäischer Ebene wird, um die interne Funktions-und Legitimationskrise zu überwinden, auf externe Kooperation mit Drittstaaten gesetzt. So strebt beispielsweise die Europäische Union eine verstärkte Zusammenarbeit mit Libyen an, um ihre Außengrenzen zu schützen und Migrationsbewegungen zu unterbinden [3]. Zudem wird auch am Abkommen mit der Türkei festgehalten, um vor allem die sogenannte Balkanroute abzusichern.

Alternativ kann diese Krise aber auch als Chance angesehen werden, einen höheren Vergemeinschaftungsgrad zu erreichen. Vor allem über eine zwingend notwendige Reform einer gemeinsamen Migrationspolitik der Europäischen Union kann dies erreicht werden. Institutionen der Europäischen Union, wie beispielsweise die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, aber auch die EU-Kommission, fordern hierbei beispielsweise Reformen zu mehr Vergemeinschaftung und einer gerechteren Verteilung [4]. Problematisch hierbei kann jedoch angesehen werden, dass die Mitgliedsstaaten sich gegen weitere Souveränitätsabgaben wehren und auch die Umsetzung der neuen Regelungen in den Handlungsbereich der Mitgliedsstaaten fallen würde [5].

Deutlich wird, dass die Handlungsalternativen nicht auf den eigentlichen Kern der ausgemachten Krise reagieren. Kernelemente der Krise, wie das aufgrund der Funktions-und Legitimationskrise schwindende Vertrauen unddivergente Verständnis von Solidarität und die Unfähigkeit, gemeinsame Lösungen auf Basis der geteilten Werte und Normen zu finden, werden mit den vorliegenden Handlungsalternativen kaum behandelt.
qtitle
Auswirkungen der sogenannten 'Flüchtlingskrise'
Die unten aufgeführten Schaubilder sollen den Grad der Vergemeinschaftung der soegnannten 'Flüchtlingskrise'  gemäß des Komplexprogramms nach Senghaas veranschaulichen. Details zum Komplexprogramm finden Sie auf der Einführungsseite des E-learning-Moduls.
Komplexprogramm nach Dieter Senghaas; eigene Darstellung
Die sogenannte 'Flüchtlingskrise' von 2015 stellt die EU vor grundsätzliche Probleme. Es gab und gibt kein kohärentes und effizient reagierendes Krisenmanagement. Und obwohl die EU sich als Wertegemeinschaft bezeichnet gibt es in der Asylpolitik keinen Wertekonsens, damit ist die Homologie geschwächt. Die gewählten Handlungsalternativen weisen keine dauerhaften Lösungen auf. 
Es stehen sich zwei Fronten in der EU gegenüber: Die Staaten die einen 'gerechten' Verteilungsschlüssel verlangen und mehr Solidarität fordern und die Staaten, die einen nationalen Souveränitätsverlust befürchten und daher eine Verantwortungsteilung ablehnen. Diese Asymmetrie könnte man als neues cleavage auffassen.
Diese Inkohärenz führte zu einer Vertrauenskrise in die Handlungsfähigkeit der EU-Institutionen und damit zu einer Schwächung der außenpolitischen Reputation der EU. Auch das teilweise Aussetzen des Schengenabkommens, womit die Entropie verringert wird,  wird als systemgefährdendes Element eingestuft. Deswegen handelt es sich nicht um eine 'Flüchtlingskrise', sondern um eine Funktions- und Legitimationskrise der EU. Ad Hoc stellt dies keine Gefährdung für den Frieden in Europa dar, langfristig könnte durch diese Kernprobleme allerdings die EU obsolet werden, was tatsächlich eine Gefährdung für den Frieden in Europa darstellen würde.
Allerdings kann die Krisensituation in Zukunft auch zu vermehrten positiven Interdependenzen führen, was den Grad der Vergemeinschaftung erhöhen und damit auch den Frieden in Europa noch weiter stabilisieren könnte. 
Quellen

[1] Hermann, Charles (1973), „Indikatoren internationaler politischer Krisen“; in: Jänicke, Martin (Hg.): Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, Opladen: Westdeut-scher Verlag (UTB), S. 53.
[2] vgl. Rat der Europäischen Union (2017). Durchführungsbeschluss des Rates zur Festlegung einer Empfehlung zur Verlängerung zeitlich befristeter Kontrollen an den Binnengrenzen unter außergewöhnlichen Umständen, die das Funktionieren des Schengen-Raums insgesamt gefährden. 6020/1.
[3] vgl. Europäischer Rat 2017
[4] vgl. Zaun, Natascha (2017): EU Asylum Policies –The Power of Strong Regulating States. Palgrave Macmillan: Cham: 259.
[5] vgl. Zaun (2017): 258.


Bisher wurde noch kein Kommentar abgegeben.