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3 Analyse

Positionen und Handlungen der beteiligten Konfliktparteien, sowie Folgen des Konflikts für die Konfliktparteien
Europäische Union

Grundsätzlich verfolgt die EU das Ziel die Ukraine an die EU anzubinden und die Demokratie in der Ukraine zu fördern. Daher ist man an einer Deeskalation der Krise innerhalb und um die Ukraine interessiert. Russlands Verhalten, insbesondere bei der Annexion der Krim,  wird dabei als Verstoß gegen das Völkerrecht gewertet und wurde daher mit Sanktionen geahndet. Problematisch ist beim Verhalten der EU, dass einzelne Staaten gemäß eigener Interessen handeln und keine kollektiv vermittelnde Position eingenommen wird.

Auf wirtschaftlicher Ebene sorgt der Ukraine-Konflikt zu einer Schwächung der Wirtschaft durch die gegenseitige Verhängung von Sanktionen mit Russland. Auf politischer Ebene verhindert die Uneinigkeit der Mitgliedsstaaten die Entwicklung einer gemeinsamen Politik und führt zu widersprüchlichen Signalen. Dazu werden die außenpolitischen Kapazitäten der EU gebunden, d.h. der Fokus auf die Ukraine verhindert mögliche alternative Themensetzungen in der Außenpolitik.
Ukraine

Das grundsätzliche Ziel der Bevölkerungsmehrheit und der Regierung ist eine Annäherung der Ukraine an die EU, da man sich so eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation, d.h. vor allem einer größeren wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Russland erhofft (z.B. bzgl. der Gasversorgung). Desweiteren gilt die EU als Vorbild für gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit, hier erhofft sich die Regierung Impulse für die landesweite Bekämpfung der Korruption. Ebenso ist gerade auch die Ukraine an einer Beendigung des blutigen Konflikts interessiert

Die Folgen des Konflikts, insbesondere des Abbruchs der Verhandlungen über das Assoziationsabkommen, sind bislang eine innenpolitische Krise und eine Bevölkerungsspaltung, welche sich bislang stets vergrößerte und im Osten des Landes zu Separatistenaufständen führte. Ebenso kann man den Konflikt eventuell bald als "frozen conflict" einstufen, d.h. einer Situation der relativen Waffenruhe zwischen Konfliktparteien, die von einem drohenden Wiederauftauen des Konflikts und unvereinbaren Positionen geprägt ist
Russland

Russland sieht sich aufgrund der EU- und NATO-Osterweiterung eingekreist und bedroht, zumal eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine etwa die Präsenz amerikanischer Soldaten direkt vor den Landesgrenzen mit sich bringen könnte. Ebenso ist das Handeln Russlands von der Absicht geprägt, entgegen internationaler Vorbehalte eine EInstufung als Regionalmacht zu wiederlegen und sich als Global Player zu behaupten. Dabei setzt Russland strategisch einerseits auf die historische Schutzrolle für russische Bevölkerungsgruppen, v.a. etwa auf der Krim, und andererseits auf das Argument, nicht aktiv, sondern reaktiv zu handeln, da der Westen als Konfliktagitator gedeutet wird.

Ähnlich wie in der EU sind die Konfliktfolgen v.a. wirtschaftlicher und politischer Natur, so wurde die heimische Wirtschaft von den Sanktionen, Einreiseverboten und Kontensperrungen getroffen
Auf internationaler Ebene sind folgende Punkte hervorzuheben:
  • Ausschluss Russlands aus der G8
  • Verschlechterung der Beziehungen Russlands zum Westen ähnlich wie im Kalten Krieg
  • Entflechtung der Wirtschaftsräume Russlands und Europas
  • Destabilisierung und anhaltende Kämpfe im Osten der Ukraine

Inwiefern wirkt sich der Konflikt auf den Frieden innerhalb der EU aus?
Unterschiedliche Friedens- und Europakonzepte
Anlehnend an den Vortrag von Dr. Konstanze Jüngling lässt sich der Friedens- und Europabegriff bezüglich der Ukrainekrise jeweils eng und weit verstehen:

Der enge Friedensbegriff bezieht sich in erster Linie auf die Abwesenheit direkter, kollektiver Gewalt:
„Frieden ist ein Zustand zwischen bestimmten sozialen und politischen Kollektiven, der gekennzeichnet ist durch die Abwesenheit direkter, verletzender physischer Gewalt und in dem deren möglicher Gebrauch gegeneinander in den Diskursen der Kollektive keinen Platz hat.“[1]

Der weite Friedensbegriff versteht Frieden im Sinne von Vergemeinschaftung und Integration:
Hierbei wird der Grad der Integration durch das erste Komplexprogramm nach Senghaas operationalisiert[2]
--> positive Interdependenz --> annähernde Symmetrie -->Homologie --> Entropie --> gemeinsame Institutionen
Europa wiederum lässt sich im engeren Verständnis als Europäische Union begreifen, oder im weiteren Verständnis als kultureller, sozialer, wirtschaftlicher und ideeller Raum, der sich bis über den Ural erstreckt, Russland also entsprechend mit einschließt.

Auswirkungen des Ukraine-Konflikts bei engem Europaverständnis und weitem Friedensbegriff
Die unten aufgeführten Schaubilder sollen den Grad der Vergemeinschaftung des Ukraine-Konflikts im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Anwendungen des engen oder weiten Europa- und Friedensbegriffs gemäß des Komplexprogramms nach Senghaas veranschaulichen. Details zum Komplexprogramm finden Sie auf der Einführungsseite des e-learning-Moduls.
Der Grad der Vergemeinschaftung bei engem Europa- und weitem Friedensbegriff
Bezieht sich der Europabegriff ausschließlich auf die EU lässt sich tendenziell von einer Stärkung der Vergemeinschaftung sprechen, da eine gemeinsame Krisenbewältigungspolitik mit einem zumindest offiziellen gemeinsamen Standpunkt gegen einen "gemeinsamen Feind" integrativ wirken kann. Da es jedoch in manchen EU-Ländern unterschiedliche Interessen gibt, ist dieser Konsens brüchig. Konkret auf die EU bezogen kann demnach mit anderen Worten festgehalten werden, dass der Ukraine-Konflikt Europa im engeren Sinn tendenziell eher zusammenschweißt als auseinandertreibt.

Auswirkungen des Ukraine-Konflikts bei weitem Europaverständnis und weitem Friedensbegriff
Der Grad der Vergemeinschaftung bei weitem Europa- und Friedensverständnis
Das Bild ändert sich bei einem weiten Verständnis von Europa grundsätzlich: Hier ist etwa eine eklatante Schwächung der gegenseitigen Interdependenzen aufgrund der Sanktionsregime zu verzeichnen. Desweiteren impliziert etwa die hybride Kriegsführung auf Seiten Russlands (die als Strategie tendenziell von autoriären Regimen eingesetzt wird, siehe Dossier) ein eklatantes Auseinanderklaffen politischer Normen im Verhältnis zum demokratischeren Selbstverständnis der EU. Insgesamt sorgt der Konflikt auch für ein wirtschaftliches und kulturelles Auseinanderklaffen des weiten Europas und ebenso für eine spürbare politische Distanz in den internationalen Institutionen. Vor allem der Ausschluss Russlands aus der G8 markierte den symbolischen Höhepunkt der divergierenden Interessen.

Auswirkungen des Ukraine-Konflikts bei weitem Europaverständnis und engem Friedensbegriff
Bei einem engen Friedensbegriff lässt sich eindeutig erkennen, dass nach Konfliktausbruch von einer eklatanten Friedensschwächung, wenn nicht gar von Friedensbruch gesprochen werden kann. Eine Analyse der jeweiligen Schuldanteile würde hierbei nicht nur höchst brisant erscheinen, sondern auch den Rahmen unserer zentralen Fragestellungen sprengen.
Auswirkungen des Ukraine-Konflikts bei weitem Europaverständnis und engem Friedensbegriff

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Fazit
Einzig bei einem engen Verständnis von Europa und v.a. bei einem eng verstandenen Friedensbegriff kann der Ukrainekonflikt nicht als Friedensgefährdend gesehen werden. Dass keine Gewalt innerhalb der EU-Grenzen vorzufinden ist, ist aufgrund der geographischen Nähe zur Ostukraine nur eingeschränkt gültig.

Der Ukrainekonflikt als Gefahr für den inneren Frieden Europas - Fazit

Wie in ihrem Vortrag angeklungen ist, argumentiert Fr. Dr. Jüngling jedoch auch, dass Frieden als Vergemeinschaftung nicht pauschal ausreicht, um die volle Gefährdung durch den Konflikt zu erfassen. Die Analyse bleibt oberflächlich und gibt ein volles Ausmaß der Problematik unzureichend wieder, da der Blick auf die Vergemeinschaftung nur Symptome des eigentlichen (Gewalt-)Konflikts offenlegt, aber nicht dessen Ursachen, bzw. den eigentlichen Konflikt, der ein Gewaltkonflikt ist. Dasselbe gilt für die Diskursanalyse. Bezüglich des Komplexprogramms nach Senghaas gilt eventuell der Vorwurf, dass es zu sehr auf Prinzipien der Europäischen Union zugeschnitten ist. Dies wäre vor allem dann problematisch, wenn man auf ein weites Europakonzept zurückgreift. Positiv hervorzuheben ist jedoch, dass das Komplexprogramm den Fokus auf die ambige Beziehung zwischen der EU und Russland lenkt, sowie Frieden und "Nicht-Frieden" nicht einfach binär trennt - so zeigt das Komplexprogramm eben die Komplexität des Konflikts auf.

Welcher Typus von Krise liegt vor? Ist der Ukraine-Konflikt eine Gefährdung für den Frieden in Europa?
Für den Ukraine-Konflikt lassen sich drei Stufen einer Krisensituation herleiten:

1.) Beim Konflikt handelt es sich um eine Funktionskrise, da bestimmte gesellschaftliche Gruppen aufgrund ihrer eigenen Interessen nicht an einer Lösung interessiert sind. So sieht Russland nicht nur generell seine Interessen in der europäischen Nachbarschaft gefährdet, sondern wurde bei Alternativvorschlägen für ein Security Governance System in der EU gar vollständig außen vor gelassen.

2.) Ebenso lässt sich durch die Krimannexion und bislang unbeantworteter Fragen zur Legitimierung des Referendums von einer Legitimationskrise sprechen.

3.) In einer dritten Stufe lässt sich der Konflikt gar als "frozen conflict" einordnen, da jede Konfliktseite zunächst deren Rolle in der Krise finden muss um an Handlungsalternativen denken zu können. Aktuell scheint die Lage in der Ukraine jedoch v.a. innenpolitisch zu verfahren, als das bald an Lösungen zu denken sei.

Einordnung in den Situationswürfel
Situationswürfel nach Hermann (1973)
Die in der Ukraine beschriebene Krise ist am ehesten in die Ecke A einzuordnen[3]. Aufgrund der geographischen Lage ist das Bedrohungspotenzial als hoch einzustufen. Die unübersichtliche innenpolitische Lage im Staat und die Unberechbarkeit der beteiligten Akteure führen zu einer kurzen Entscheidungszeit. Die Annexion der Krim sowie die weiteren Entwicklungen können im Hinblick auf die letzten Jahre bis zu einem bestimmten Grad als überraschend charakterisiert werden.

Das hohe Bedrohungspotenzial und die zu weil geringen Antizipationsmöglichkeiten zusammen mit der kurzen Reaktionszeit führen zu dem Schluss, dass eine Krise vorliegt.









Literatur- und Quellenverzeichnis

[1] Müller, H. (2003): Begriff, Theorien und Praxis des Friedens. In: Hellmann, Gunther/ Wolf, Klaus Dieter/ Zürn, Michael (Hg.): Die neuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Per­spektiven in Deutschland. Baden-Baden, S. 219 f.
[2] Senghaas, D. (2004): Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen, Frankfurt: Suhrkamp, S. 145-159.
[3] Situationswürfel basiert auf Hermann, C. (1973), „Indikatoren internationaler politischer Krisen“; in: Jänicke, Martin (Hg.): Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, Opladen: Westdeut-scher Verlag (UTB), S. 53.


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